Inhalt
Im Animationsfilm "Wo ist Anne Frank" wird die legendäre Tagebuchschreiberin in der Gegenwart von ihrem Alter Ego Kitty gesucht. Ein magischer Vorfall im Amsterdamer Anne-Frank-Haus erweckt die imaginäre Freundin zum Leben – zumindest für das Filmpublikum. Für Besucher*innen des Touristenmagnets bleibt sie dagegen unsichtbar. Da Kitty zunächst nicht klar ist, wie viel Zeit seit Annes letztem Tagebucheintrag vergangen ist, glaubt sie, ihre Schöpferin noch wiederfinden zu können. Durch die Lektüre in Annes Tagebuch öffnet Kitty eine zweite, historische Zeitebene. Diese reicht von Annes ersten Tagebucheintrag bis zu ihrem Tod. Auf der ersten Zeitebene verlässt Kitty mit dem Tagebuch im Rucksack das Anne-Frank-Haus und wird dadurch auf wiederum magische Weise sichtbar. Als sie eine Vermisstenanzeige nach Anne Frank aufgibt, trifft sie auf das mit ihrer Familie geflüchtete Mädchen Awa und lernt den Taschendieb und Asyl-Aktivisten Peter kennen und lieben. Mit ihm fährt sie schließlich nach Bergen-Belsen zu Anne Franks Grabstein. Während Kitty Anne sucht, sucht nun alle Welt nach ihr, der Diebin von Annes Tagebuch. Kitty nutzt die öffentliche Verehrung des Tagebuchs schließlich, um für Awa, ihre Familie, ihre Freundinnen und Freunde ein Aufenthaltsrecht zu erwirken. Für Awa gibt ein märchenhaftes Happy End, für Kitty nicht. Entgegen Peters Überzeugung löst sie sich am Ende des Films auf und Peter bleibt allein zurück.
Umsetzung
Die Geschichte ist als klassischer 2D-Zeichentrickfilm inszeniert, der teilweise mit fotografierten Hintergründen arbeitet. Wenn Comic und Zeichentrick gemeinhin eine Nähe zur Idee, zum Reich der Gedanken zugeschrieben wird, so treibt hier folgerichtig eine imaginäre Figur die Filmhandlung voran, nämlich Kitty. Im Film finden sich vielfältige Zeichenstile – von Karikaturen bis zu gemalten Standbildern und Animationen in der Animation. Anne Frank wird als witziges und scharfzüngiges Mädchen präsentiert, ihre Alltagsbeschreibungen sind mit Schwung und Humor in Szene gesetzt, sodass der Film bei aller Schwere des Themas auch viel befreiende Komik bietet. Dies und der mitreißende Soundtrack machen eine Identifizierung mit der Heldin und ihrer Schöpferin Anne sehr leicht. Annes letzte Wochen im Konzentrationslager werden symbolisch in den Hades der griechische Götterwelt verlegt. Kitty ist ein deutlich moderneres Mädchen, mit weniger Wortwitz ausgestattet als Anne, dafür aber zupackender, zielstrebiger. Eigenschaften, die Anne freilich, gefangen in ihrem Versteck, gar nicht ausleben konnte.
Anknüpfungspunkte für die pädagogische Arbeit
Neben der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus stellt der Film vor allem die Frage: Was sagt uns Anne Frank heute? Dazu zieht Regisseur Ari Folman eine Parallele zwischen ihr und Kindern, die gegenwärtig weltweit auf der Flucht sind. Was ist ähnlich an der Situation der geflüchteten Kinder heute, was aber auch ganz anders? Die Botschaft von Anne Franks Tagebuch – so lässt sich schließen – zeigt sich erst, wenn es auf die Gegenwart bezogen wird, nicht solange es musealisiert ist. Um es in der Filmsprache zu formulieren: Kitty ist nur außerhalb des Anne-Frank-Hauses sichtbar. Neben der Analyse typischer Zeichentricktechniken bietet sich ein Vergleich Comic und Film an. Ergiebig ist auch die Beschäftigung mit der Struktur der Heldenreise. Eng damit verwandt stellt sich die Frage nach dem Filmende. Was passiert mit Kitty? Hat sie ihre Schuldigkeit ein für alle Mal getan oder kehrt sie ins Buch zurück und ist bereit für ein weiteres Abenteuer? Gerade für jüngere Kinder empfiehlt es sich, diese Fragen bereits vor der Filmsichtung aufzuwerfen, um ihnen eine tröstliche Auslegung des Schlusses von vornherein anzubieten.